Das Projekt nexus ist seit dem 30. April 2020 abgeschlossen. Alle Informationen und Texte entsprechen dem Stand zum Projektende und werden nicht weiter aktualisiert. Mit dem Themenbereich Anrechnung und Anerkennung befasst sich das aktuelle HRK-Projekt MODUS und für Studierende die Infoseite AN!.

„Bereit für die klinische Praxis?“

Eine kompetenzbasierte Prüfung im Praktischen Jahr könnte Medizinstudierenden wichtiges Feedback geben. Sigrid Harendza, Professorin für Innere Medizin und Ausbildungsforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg berichtet von einem niederländisch-deutschen Kooperationsprojekt.

Kommunikationstrainings und Prüfungen von praktischen Fertigkeiten gibt es für Medizinstudierende inzwischen an den meisten Hochschulstandorten. Wie aber fühlt es sich an, wenn man im ärztlichen Arbeitsalltag diese Fähigkeiten mit dem medizinischen Wissen „unter einen Hut bringen“ soll? Und wie schätzen die vorgesetzten Oberärztinnen und Oberärzte eigentlich ein, welche Aufgaben sie einem „frisch gebackenen“ Assistenzarzt zutrauen können – mit anderen Worten: für wie kompetent halten sie ihn?

Diesen Fragen hat sich ein niederländisch-deutsches Team gestellt, das von Olle ten Cate, Direktor des Instituts für Ausbildungsforschung vom Medizinischen Zentrum der Universität Utrecht, und von mir geleitet wird. Zunächst wurden in beiden Ländern in einem mehrstufigen Delphi-Verfahren mit medizinischen Abteilungsdirektoren an Ausbildungskliniken 25 Basiskompetenzen ermittelt, die die Professoren bei potentiellen Bewerberinnen und Bewerbern auf eine Assistenzarztstelle erwarten. Unter den „Top 10“ fanden sich in beiden Ländern beispielsweise „Teamwork und Kollegialität“, „Übernahme von Verantwortung“, „Kennen und Handhaben von persönlichen Grenzen“, „Wissenschaftlich begründete Arbeitsmethoden“ und „Umgang mit Fehlern“.

Basierend auf den zehn Kompetenzen, die die ersten zehn Plätze in beiden Ländern gleichermaßen belegten, wurde ein Prüfungsszenario entwickelt, das in etwa dem ersten Arbeitstag eines neu approbierten Assistenzarztes entsprechen könnte. Nach der Begrüßung durch einen Oberarzt erfährt der Prüfungsteilnehmer, dass jener zu einem wichtigen Termin gerufen wird. Da es nicht möglich gewesen sei, die Sprechstunde abzusagen, bittet der Oberarzt den Prüfungsteilnehmer, die Sprechstunde zu übernehmen und sich um die Patienten zu kümmern unter dem Hinweis, dass er jederzeit telefonisch erreichbar sei.

Die Prüfung besteht aus drei Phasen. Im ersten, einstündigen Teil führen die Teilnehmer eine Sprechstunde mit fünf Schauspielpatienten durch, wobei das Gespräch von einer Videokamera aufgezeichnet und später ausgewertet wird. Nach jeder Konsultation geben die Schauspielerinnen und Schauspieler eine Bewertung des Gespräches auf einem Fragebogen zur Einschätzung der Empathie der Teilnehmer ab. Im Anschluss an die Sprechstunde haben die Teilnehmer im zweiten Teil der Prüfung drei Stunden Zeit, in einem realitätsnah ausgestatteten Arztzimmer Diagnostik- und Behandlungskonzepte für die fünf Patienten zu erarbeiten. Sie können Labor- und Röntgenbefunde anfordern, die nach entsprechenden Zeitintervallen per Computer geliefert werden, und sich auch auf andere Weise weiterführende Informationen beschaffen, um für jeden Patienten einen Therapieplan vorzubereiten. Während dieser Zeit werden die Teilnehmer mit realitätsnahen „standardisierten Störungen“ konfrontiert (z.B. Fragen von Pflegekräften, plötzliche Verschlechterung des Zustandes eines Patienten, Dienstplantauschwünsche von Kollegen usw.) und haben jeder Zeit die Möglichkeit, ihren Oberarzt telefonisch zu kontaktieren, wenn sie dies für nötig halten. Im dritten Teil, der 30 Minuten dauert, berichten die Teilnehmer ihrem zurückgekehrten Oberarzt über ihre Differentialdiagnosen und Therapievorschläge für die fünf Patienten. Anschließend werden die Kandidaten sowohl von den Pflegekräften als auch von den Oberärzten hinsichtlich der Kompetenzen aus der Delphi-Studie eingeschätzt. Die Oberärzte bewerten zusätzlich auf einem Bogen mit sogenannten „entrustable professional activities“ (EPAs), für wie kompetent sie den Teilnehmer, mit dem sie zusammengearbeitet haben, bezüglich jeder einzelnen EPA halten.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bewerteten die Prüfung als sehr realitätsnah. Insbesondere das Erleben der persönlichen Verantwortung für Patientinnen und Patienten, die eigene Einschätzung, wann man sich mit einer Situation überfordert fühlt und das Feedback durch die Oberärztinnen und Oberärzte zu Kompetenzbereichen mit Verbesserungspotential wurde von den Teilnehmenden als sehr wertvoll für ihr weiteres Lernen genannt. Einige Studierende hätten sich eine solche Prüfung zu Beginn ihres Praktischen Jahres gewünscht, um ihr Lernen in der konkreten Arbeitssituation darauf abgestimmt organisieren zu können.

Die Etablierung einer solchen Prüfung ist zunächst natürlich mit einem hohen Aufwand verbunden, da das komplette Format entwickelt werden muss, was im Rahmen des Projektes zwei Jahre in Anspruch genommen hat. Hinzu kommen die Schulungen für die Schauspielerinnen und Schauspieler, für die Oberärztinnen, Oberärzte und Pflegekräfte sowie für alle weiteren Mitwirkenden. Mit Hilfe eines solchen Prüfungsprototyps ließe sich jedoch durch Entwicklung weiterer Patientenfälle ein Prüfungsformat etablieren, das die Realität sehr valide abbildet und den Studierenden wichtiges Feedback gibt, welche Kompetenzen von ihnen in der Arbeitswelt erwartet werden. Darüber hinaus lassen sich mit dieser Prüfung Studierende, die unterschiedliche medizinische Curricula durchlaufen haben, hinsichtlich ihrer Kompetenzen gut vergleichen. Bereits im Rahmen des Projektes ließen sich enorme Unterschiede in der Qualität der Anamnesen und im Verhalten der Anforderungen von Labor- und Röntgendiagnostik finden.

Prof. Sigrid Harendza